Birne. Birne war oder ist der nicht ganz schmeichelhafte Spitzname für Dr. Helmut Kohl. Ich vermute, er sucht die Gemeinsamkeit von Obst und Kohl in der Form. Ob der Ausdruck: ‚Das ist doch total Birne‘ älter ist als Helmut Kohl, spielt für die Assoziationskette überhaupt keine Rolle.

    Heute lese ich von Steuerhinterziehung (Alice Schwarzer, André Schmitz, Uli Hoeneß), der Elephantenjagd eines thüringischen Umweltministers und den unerfreulichen Vorgängen beim ADAC. Wie schnell für einen finanziellen Vorteil, die eigene Großmutter verkauft wird, darf ich auch auf unterster Ebene der Universitätspolitik immer wieder beobachten. Mit den Potenzen scheint dann der Wille, sich am Gemeinwohl zu beteiligen, exponentiell abzunehmen.

    Allem Anschein nach brauchte der Umweltminister weitere 19 Schüsse, um das nach dem ersten Treffer waidwunde Tier zu Fall zu bringen. In einer Kurzgeschichte von Hemingway hätte der Erzähler dem Herrn Minister noch in der selben Nacht die Frau abspenstig gemacht.

    Robinson Crusoe. Das Robinson Crusoe Konzert hieß Rainald Grebes erste Platte. Putin – so Grebe, zwischen zwei Nummern fabulierend – Putin sei kein Lupenreiner Demokrat. Dafür sei Russland viel zu groß.

    Obwohl synonym verwendet, haben ‚verdienen‘ und ‚erwirtschaften‘ wohl wenig gemeinsam.

    Beim Department-Meeting zur taktischen Lage im Kampf mit der Administration, gibt Sarah Castro Claren aus der spanischen Abteilung zu bedenken: man müsse den Menschen klarmachen, dass die Geisteswissenschaften für die Demokratie überlebensnotwendig sind.
    Leider hat das gute Leben mit Überleben nichts zu tun Für Letzteres ist Demokratie nicht notwendig, wahrscheinlich sogar hinderlich. Im Notwendigkeits-Diskurs gewinnen wir keine Blumentöpfe, es sei denn wir pflanzten Reis in ihnen an.

    Telephon. Aus Abneigung gegen vieles, dass sich mit ihm verbindet, benutze ich noch immer kein smartphone. Mein fast ein Jahrzehnt altes Mobiltelephon eines einst den Markt dominierenden skandinavischen Herstellers, hat unter anderem den Vorteil überlegener Ausdauer – ich kann es in der Tasche vergessen und es wird auch nach einer Woche noch freudig nach mir klingeln. Das allerdings will ich gar nicht, denn jeder Anruf bedeutet einen Einbruch ins so mühsam stabiliserte Leben. Jeder Ton, den es von sich gibt, kann den völligen Kontrollverlust bedeuten. Walter Benjamin beschrieb das Schrillen des Fernsprechers in der Berliner Kindheit sehr richtig als Gefährdung des bürgerlichen Haushalts. Jetzt gefährdet das Mobiltelephon konkret die unbelehrbare Seele, die trotz fortgesetzter Enttäuschung, mit jedem Anruf und jedem Text auf die gute Nachricht wartet.
    Dennoch behalte ich das Telephon nah bei mir. Es gehörte ursprünglich meiner gleichaltrigen Cousine mütterlicherseits. Bevor sie es gegen das damals ungeheuer gutaussehende und ansprechend zu bedienende Statussymbol unserer Generation eintauschte und mir das Altgerät zur weiteren Verwendung überließ, malte sie auf die Rückseite noch ein Herz aus pinkem Nagellack. Das Herz löste sich langsam vom Metall der Hülle, auch ersetzte ich für einstellige Dollarbeträge jeweils die Batterie und die verkratzte Bildschirmabdeckung, sodass Funktionalität und Erscheinungsbild es als neu ausweisen würden, wäre nicht seine Existenz als Telephon bereits der eigentliche Anachronismus. Nehme ich das Gerät in die Hand, fällt mir sofort ein, wie ich es vor der Tür eines guten Freundes fallengelassen habe und alles, was der Abend danach noch brachte. Auch das Herz meiner Cousine bleibt unvergessen und wie ich damit nach Düsseldorf gefahren bin, um exzessiv ihren Geburtstag zu feiern.
    Will ich mit ihm etwas schreiben, so verlangt es von mir sprachliche Stringenz. Die Eingabesprache des mitlerlweile fast vergessenen T9 will von mir wissen, ob es französosch, deutsch oder englisch ergänzen und mutmaßen soll. Die Veränderung bedarf eines tiefen Eingriffs in die Menüstruktur, die ich mir oft erspare und das Eingestellte dem Empfänger einfach zumute – ungeachtet seiner oder ihrer Muttersprache und meiner Kompetenz das Gewollte auch wirklich auszudrücken. Im Englischen geschehen dabei immer wieder Zufälle, die man vielleicht als digitale Homonyme bezeichnen kann. Durch drücken der Bedienfelder in exakt gleicher Folge, übersetzt T9 zum Beispiel ‘dont’ in ‘food’. Ebenso erscheint, wenn ich 4663 wähle, notwendig ein ‘good’ vor ‘home’. Aus ‘coffeeshop’ wird ‘coffeesin?’ und mein angestrebtes ‘night’ wirft es mir vielsagend als ‘might’ zurück. Diese und viele andere Nachrichten des durchschnittlichen Benutzers schickt mir mein Telephon. Am anderen Ende verhandelt der Leser dann mit sich, was es wohl bedeutet, wenn ich schreibe. ‚I food go good. Come over to the coffeesin?‘
    Tagelang liegt mein Telephon dann schwer in meiner linken Tasche und wartet lautlos, dass ich das Echo meiner Einbrüche in den Haushalt anderer zur Kenntnisse nehme. Manchmal legen wir uns gemeinsam schlafen und schalten uns aus Energiemangel ab. ‚home might‘. Und doch: Um 2000 erwische ich mich meist bei etwas anderem. Ich schaue es ungeduldig an und hoffe, dass es die unerträgliche Stille durchbricht.

    In einem Raum mit etwa 80 Menschen, allesamt mit akdademischem Titel, erhält sich während einer mehrstündigen Diskussion um die Zukunft der Graduate-Studies der Ausdruck ‘Ombudsperson’. Die Komik der politisch korrekten Überkorrektur erstickt in meinen Tränen.

    Aus meinem Jahr in St. Paul besitze ich noch immer eine Daunenjacke und eine lange Unterhose aus synthetischem Material. Letztere ist dezent unter jeder Jeans zu tragen und bewahrt mich vor der Kälte und dem Spott der europäischen Exilanten am Department. Italienische Männer und französische Frauen halten ihr Klassenbewusstsein bei Minusgraden flatternd in den schneidenden Wind. Auch wochenlang anhaltende Erkältungen ändern nichts an dieser Uniform aus dünnen Lederschuhen, rosa Hemden und auf Taille geschnittenen Jäckchen, die nicht zu schließen sind. Es sind Flüchtlinge, die Hals über Kopf ihre Heimat verlassen mussten und nur tragen, was sie damals am Leibe hatten. Ich blicke auf die mehrfach Verstoßenen, geschwisterlich teilen sie – zitternd zusammengerückt zwischen den Säulen des Vordaches, ihre Freiheit auf den Lippen – mein Sturmfeuerzeug.

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    Beim Kaffee, ein alternativer Blick auf Delacroix: Warum muss sich die Freiheit auf der Barrikade obenrum entblößen?
    Wäre sie allzu geharnischt, wie die amerikanische auf dem Kongressgebäude, könnte sie alleine in den Kampf ziehen. Die Toten am Boden würden noch Leben und mit den anderen noch Lebenden gespannt im Starbucks darauf warten, dass die Bronze sich bewegt.

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    Artikel in der Netz-’Zeit’, Lars Berster fragt: Hilft Nur noch Notwehr gegen die NSA? und spielt einen hypothetischen Anschlag mit oder ohne Personenschaden auf die Abhöranlagen des berliner Botschaftsgebäudes der USA durch. Er kommt zu dem Schluss, dass der Begriff der Notwehr im deutschen Rechtssystem eine Beschädigung zuließe, sofern das Machtmonopol (BRD) den Schutz des Bürgers nicht garantieren kann oder will. … Das ist ebenso einfach zusammenzufassen, wie unmöglich zu kommentieren.

    Adorno war nicht radikal genug. Barbarisch sind nicht jene, die eine Tür nicht leise zu schließen im Stande sind, sondern jene, die nicht in der Lage sind, eine Tür überhaupt zu schließen. Mangelnde Empathie entsteht, wenn man auf den 100 Fuß vom SUV zum Starbucks nicht ausreichend Zeit hatte, um die Erfahrung von Kälte zu machen. Die freundliche Geste des Türaufhaltens wird bei -12 Grad zum Ausweis unendlicher Ignoranz.

    13 von 14 Frauen haben nach der Einnahme des Präparates abgenommen. Die Prämissen hinter diesem Bruch sind von derartiger Menschenverachtung, dass man von Gewalttätigkeit sprechen muss. „Wir haben 100 Leute gefragt…“ ist vielleicht die perfideste Tarnung von Totalitarismus überhaupt. Spielerisch ist daran schon lange nichts mehr. Wer die Gewalt jedoch akzeptiert, kann eine Statistik auch als pragmatische Lebenshilfe begreifen. Die Hardware zur Selbstvermessung, die viele Amerikaner als Armband mit sich herumtragen, wird von ihnen durchaus als Befreiung empfunden. Selbstoptimierung hieß einst sich im Kloster an Jesus anzunähern. Dazu brauchte man Exegeten, die sein Leben aus der Bibel und Apokryphen konstruierten.
    Die Autorität über die Deutung der Zahlen liegt heute bei den Datensammlern und wer 100 Leute fragt wird ohne Zweifel feststellen, dass die Akpzeptanz von Klosterbrüdern unter der von Administratoren liegt.

    Wer sich der Statistik annähert, ist kein Revolutionär, sondern will genau in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Das Heilsversprechen des ‚Durchschnitts‘ vermehrt die Arbeit am status quo und heilt uns von jeder utopischen Anstrengung.

    Einen Mangel an idiologischem Bewusstsein kann sich vor Ohren führen, wer evangelikale Christen belauscht, die sich über das gute Leben unterhalten. Richtig Grund zum Lachen hat aber nur, wer die Beweise für das gute Leben auf der Seite einer Cornflakes-Schachtel nachliest.

    Die meistgelesenen rituellen Texte sind die auf Shampoo-Flaschen, Müslipackungen, Brotaufstrichen und allgemein alles Gedruckte, das am Frühstückstisch und auf der Toilette zum Nachbeten herangezogen werden kann. Wer das Abendland retten will, sollte die Wochenendausgabe der TAZ auf Nutellagläser drucken.

    David Bowie hat sein body-double gefunden. Tilda Swinton springt dort ein, wo das Spiel mit der Androgynität den 66-Jährigen zum Geck machen würde.

    Die zeitintensive Vorbereitung für meinen Intersession-Kurs: The World as Crime Scene erscheint mir bisweilen als bloße Entschuldigung für den ungehemmten Konsum von Popkultur. Denkbar wäre auch, dass es sich dabei – im Gegenteil – um Selbstausbeutung meinerseits handelt.
    Bei der Durchsicht aktueller Werbefilmchen aus dem US Fernsehen, sehe ich wie kunstvoll der Gebrauchswert von Scheiße durch Vergoldung in die Höhe getrieben wird. Werbung ist der Versuch einer Partei, einer anderen Partei etwas zu einem höheren Preis zu verkaufen, als erstere beim Erwerb bereit war für das etwas zu zahlen. Die Aufgabe ist, dem Käufer etwas zu Versprechen, das ihn dazu bringt in den unsinnigen Handel einzuwilligen. So, oder so ähnlich bestimmt bei Marx nachzulesen. Bei aller Kritik am Prozess der Bedürfnisproduktion, muss festgehalten werden, dass kleine Dinge tatsächlich dein Leben verändern können. Nur – versprechen lässt sich das nicht.

    Ich erinnere mich sehr genau an den Besuch meines Gymnasiums etwa zwei Jahre nach dem Abitur. Die ungewöhnlich zeitige Rückkehr an den Ort des Schreckens, den ich kurz zuvor noch um jeden Preis verlassen wollte, hatte zum Grund ein Mädchen. Für die Erinnerung ist das aber nur eine Randbemerkung Was hängen blieb, war die kurze Begegnung mit meinem alten Deutsch- und Religionslehrer, dem ich mich als Student der Germanistik und Geschichte zeigen wollte. Mit dem Versuch auf dem Schulflur an der Treppe zum Kunstkeller eine Diskusion über Paul Watzlawick und den Konstruktivismus anzufangen, ließ er mich, auf dem Weg in seine eigene Klasse, folgendermaßen zurück: „Ich vermeide das, es enthält keine Heilsbotschaft.“ Ich war nicht enttäuscht, sondern fragte mich, was passieren muss, damit ich das auch mal zu jemandem sage.
    Heute auf dem Weg ins Seminar freue ich mich über den anregenden Blödsinn, den er mir damals mit auf den Weg gab. Wenn mich jetzt jemand anspräche, würde ich nur nicken und sie oder ihn mir eine Email schreiben lassen.

    “Sie immer noch überraschen zu können: Unbezahlbar.”
    Das Versprechen hinter allem: es wird dein Leben verändern. Bei Mastercard weiß man, dass sich dieses Verprechen nicht einlösen lässt und bewirbt die Qualität des angebotenen Service mit der Kontingezerfahrung – unendlich viele Dinge, die man kaufen kann, beinhalten womöglich die wenigen, die sich einem direkten Erwerb verweigern. Wer Geld verkauft, kann leicht behaupten, dass der Besitz des Produktes, irgendwie, irgendwann tatsächlich zur Bedingung der Möglichkeit von Glück wird. Mit der Plastikkarte ist man bereit für diesen Zufall. Da er sich nicht planen lässt, steckt dahinter noch der Hinweis darauf, dass wer mehr kauft sich diesem Zufall öfter aussetzt und zwangsläufig glücklicher ist. Letztlich bewirbt sich der Kapitalismus hier selbst und entblöst zudem sein perfides Heilsversprechen: Unbezahlbares in Zahlen abbilden und Glück verdienbar machen. Rationalisierung ist ein Bedürfnis und noch die allergrößte Unvernunft kann ihm dienen. Ein eindeutiges Versäumnis scheint mir zu sein, dass sich auf keiner mir bekannten Kreditkarte ein „In God we trust“ findet.

    Roger Moore sagte nach der Produktion von A view to a kill, er habe keine Lust mehr auf James Bond. Ihn störe, dass er älter sei als die Mutter der Hauptdarstellerin. Mit letzterer macht er gegen Mitte und Ende mit britisch gedämpfter Leidenschaft in Dusche und Bett den Handel richtig. So steht es zumindest in einer alten Übersetzung des Decamerone, als ein Abt und ein viel zu junges Mädchen sich über die Form des gewünschten körperlichen Kontaktes informieren: “Und der Handel wurde richtig.” Wir werden nie erfahren, was der alte Abt dem Mädchen zu bieten hatte. Wann aber verlor Roger Moore die Lizenz zum Beischlaf mit jungen Damen?
    Ein Body-double ist beim Sprung von der Brücke auf ein fahrendes Schiff zu verzeihen. Zum lächerlichen Lustgreis wird erst, wem die Erziehungsberechtigten Produzenten das Autofahren nicht mehr zutrauen. Roger Moore hat im Handeln – für den Zuschauer deutlich sichtbar – an Potenz eingebüßt.

    Konstantin Wecker nannte die neuen Alten unlängst “Fitness-Senioren”. Das halte ich für nicht ganz passend. Werden die Körper doch einem ästhetischen Ideal nach zugerichtet, dass, im Gegenteil, der Tauglichkeit überaus abträglich ist. Funktionalität und Haltbarkeit der Extremitäten und Organe werden durch Lifting, extremes Kraft-Training und Implantate zu Gunsten der Erscheinung eingeschränkt. Das nennt man, glaube ich, Mode und hat mit Gesundheit nichts zu tun.

    Tauben vergiften im Park: Gustav von Aschenbach erschien schon damals als Geck. Madonna und Sylvester Stallone warten noch darauf als solche beschrieben zu werden. Wenn sie allerdings eines Tages das Gecksein aufgeben sollten und in Funktonsjacken und Turnschuhen am Kai stehend Seemöven füttern, muss eine neue Bildsprache erfunden werden, die uns glaubhaft versichert, dass der Tod zu besiegen sei.

    Man muss nur aufs Meer blicken, um sich über die eigene Existenz neue Ilusionen zu machen.

    In Zeiten großer Anspannung ist es das Beste, sich dem Grund der Anspannung direkt zu stellen. Meistens handelt es sich um etwas, das zu lange aufgeschoben wurde: Arbeit im Allgemeinen, ein Arztbesuch, der Anruf bei alten, ehemals gut Bekannten. Viel Schlaf und Abstinenz soll außerdem bei der schnellen Verarbeitung der aufgelaufenen Anfragen helfen.

    Aufruf zum täglichen Alkoholgenuss:
    Arbeit lässt sich nicht abarbeiten. Es gesellt sich immerzu neue Arbeit zur alten und verschiebt das Ende in unabsehbare Ferne. Bevor diese Verzweiflung zu Verspannungen führt und einem das Leben schon beim Aufstehen verleidet, sollten Etappenziele durch rituelle Abschlüsse gekennzeichent werden. Zum Beispiel durch eine Flasche Rotwein, die man spät in der Nacht mit anderen trinkt.

    Vor dem Haus des Präsidenten der Johns Hopkins konnte ich im Sommer einige Hochzeiten beobachten. Dieser Bereich des Campus erinnert an einen botanischen Garten und Allergiker haben aufgrund der importierten Gewächse aller Art das ganze Jahr über ihre Freude an diesem Kleinod, das zwischen Clubhaus, Gewächshaus und dem Gebäude der Geisteswissenschaften  zudem eine ansehnliche Grünfläche mit Springbrunnen bietet. Hundertschaften können dort romantisch zwischen von gröbster Bedrohung befreiter Natur und marmorschwerer Herrschaftsarchitektur der großen Erzählung zugeführt werden: ‚bis dass die Scheidung uns tötet‘. Finanziell muss ich den Keim des Todes schon im Pomp der Heirat erkennen, die in den von mir beobachteten Fällen jeweils mehrere zehntausende Dollar gekostet haben muss. Während der Bräutigam mit der Hummer-stretch Limousine auf dem Feld der Eheschließung erschien, musste die Braut alleine in einer Pferdekutsche anreisen und scheinbar sinnlos darin sitzen bleiben, bis die Photoraphen mit ihr fertig waren. Die Einsamkeit ihres Objekts haben die Bilder wohl kaum eingefangen und auch den etwa fünfzig Meter langen, getragenen Marsch der Braut bis zum Altar – bei dem sie ihr Platin-farbenes Kleid über den Rasen heben und ihre zwölf Zentimeter langen Absätze bei jedem Schritt dem weichen Erdboden wieder entreißen musste – auch diese vom tiefen Ernst verdeckte, lächerliche Qual haben sie ganz anders gesehen.
    Vom Ritus bereits derart zugerichtet, erreichte die, allem Anschein zum Totz, sehr schöne Braut, schließlich ihren geduldigen Bräutigam im schneeweißen Smoking. Im Rasen vor der Priesterin versinkend, war sie auch ohne die Röhren unter ihren Schuhen deutlich größer als ihr bald Anvertrauter, der mit US amerikanisch-lockerem, Hosenzuschnitt alles daran gab seine Oberfläche im Wind zu vergrößern. Er würde sich auch in Zukunft Mühe geben jeden Mangel auszugleichen, und das zeigte er der Welt, indem er sich einen enormen Lederhandschuh über Hand und Unterarm zog. Nach kurzem Winken landete darauf ein Falke. Ein Lederbeutel am Greif enthielt die Ringe, die das Tier dankbar zurückließ, um sich auf einem nahegelegenen Baum die beste Aussicht auf das ganze zu sichern.
    Aus gehörigem Abstand das ganze beobachtend, blickte ich abwechselnd auf einen Käfig mit weißen Tauben, von dem ich annahm, dass er sich zum Höhepunkt hin öffnen sollte und den Falken im Baum. Ich fühlte, dass wir beide insgeheim dem Zeichen des Taubenfluges unsere ganz eigene Spannung abgewinnen würden, die sich auch über das Ende der Hochzeit noch erhalten sollte.
    Der Falke, der jetzt gerade in meinem Innenhof auf dem Geländer einer Feuerleiter sitzt, muss sich verirrt haben. Er fliegt gleich wieder weg, als ich versuche ihn dort mit der Kamera einzufangen. Ich bekomme Besuch zum Kaffee. Noch zweieinhalb Jahre werde ich hier arbeiten.

    Im Flugzeug: keine Möglichkeit, die Beine unterzubringen. Air Berlin hat sich entschieden, jedem Passagier einen Touchscreen vorzusetzen. Die entsprechenden Mehrkosten werden durch absurde Dimensionen des Sitzraumes wieder hereingeholt. In der Breite müssen die Schultern und im Fußraum die Beine eingezogen werden. Von Vorteil ist, dass ich im Falle einer Notwasserung bereits die im Piktogramm dargestellte Körperhaltung einnehme. Ich bin gut vorbereitet. Zwar hat der Normalfall an Komfort, aber der Notfall auch an Schrecken verloren.

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    Im Flugzeug: kultureller Höhepunkt ist die Film-Kurzbeschreibung von The Host. „Parasitic Aliens called ‘souls’ have invaded earth. They take over the minds of humans using them as their hosts.” Ich frage mich, wer die Aliens als erster ‘souls’ genannt hat. Haben sie das zu Gunsten kultureller Anschlussfähigkeit selber getan? Ich werde nie erfahren, wie der Film das Problem der Benennung gelöst hat und sehe zum dritten Mal Into Darkness. Wer Planeten und Völker der römischen Mythologie entlehnt, vermeidet den Mythos, Vorstellungen außerirdischer Kultur kämen von außen.

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    Dass Air Berlin den Wohnraum zu Gunsten des Fernsehers vernachlässigt, erinnert mich an die halb verfallenen Reihenhäuser Baltimores. In ihnen trotzen die Bewohner dem verbrannten Dachstuhl und den eingeschlagenen Fenstern mit Plasmafernsehern und Kabelanschluss.

    Dinge, die die bürgerliche Gesellschaft nicht überlebt: ein an der Rückenlehne eines Schlafenden gegen das mangelhafte Interface und die KI Solitaire spielender Hintermann.
    Das Wort ‘Touchscreen’ wird dem Ernst der Lage nicht gerecht.

    Bereits nach einer Stunde Autofahrt hatten sie mich wieder als einen der ihren. “Fahr doch, Du Arsch!”, “Rein oder raus!?” konnte man mich sagen hören. Für Menschen, die in Vorstädten leben, ist der öffentliche Raum zunächst einmal Fahr- und Parkplatz. Ich behaupte die in den USA weit verbreiteten four way stops verursachten in Deutschland eine politische Krise, denn sie verlangen ständige Kommunikation der Verkehrsteilnehmer jenseits der blanken Regel. Der Zweifelsfall – wer stoppte die entscheidende zehntel Sekunde vor dem anderen, stand der Wagen bereits, oder rollte er noch, … – ist der Regelfall. Die Verabredung des weiteren gemeinsamen Handelns bedarf der Nachsicht und Vorsicht der Verkehrsteilnehmer. Dergestalt ist der Prozess urdemokratisch, aber auch und gerade deswegen ineffizient und zeitraubend.
    Die dreimonatige Fahrausbildung und Professionalisierung des deutschen Autofahrers bewahrt ihn vor diesem Austausch. Das Regelwerk beschreibt für alles die passende Zwangshandlung. Wir kennen das vom Vater und dessen Tisch. Im Auto hat der Deutsche seinen beweglichen Tisch und er fährt immerzu im Raum der Notwendigkeit, in dem nichts verhandelt oder besprochen wird. Dabei sind es nur seine eigenen Füße, die unter dem Brett für Unruhe sorgen. Dem Handeln anderer Füße folgt die erzieherische Maßnahme: Ein Tritt auf die Bremse ist der Tritt in den Hintern des Vordermannes, der die Straße zum Parken benutzt. Wer kuppelt, beschwert sich bei selbigem tretend über die aufgezwungene Veränderung. Nur beim Gasgeben bleibt der Fuß ruhig liegen und liebkost die Infrastruktur. Freie Fahrt bedeutet, dass man mit ihr alleine ist, dass einem niemand widerfährt.

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    Der Spiegel unterlegt Nazi-Filmchen mit düsterer Musik. Der interessierte Zuschauer sieht den Führer die verlassene Champs-Elysées hinauffahren und fühlt den Schauer. Richtig schrecklich ist es nicht. Wie schön, wenn man nachts auf der A7 alle fünf Spuren für sich hat.

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    Für das Wagnis der Öffentlichkeit muss er sich wappnen.

    Die einzige Buchhandlung der Stadt Bocholt im westlichen Münsterland ist eine Meyersche: ein Drittel Buch, davon zwei Drittel Esoterik und und Bildbände. Ich kaufe die neue Biographie von Hannah Arendt, Joseph Roths Hiob und Imperium von Christian Kracht. Kracht war auf der Spiegel Bestseller Liste, Roth gerade im Zentralabitur und Arendt im Kino. Ich stelle fest, dass die Einkaufsabteilung der Meyerschen davon ausgeht, dass die Bewohner der Stadt Bocholt politische Magazine lesen, Abitur machen und ins Kino gehen. Im Glauben an die ökonomische Schulung der Einkäufer, den Kulturbetrieb und alle Institutionen überhaupt beschließe ich, dass noch alles gut wird.

    Prinz’ Arendt-Biographie befand sich in einem Regal mit der Aufschrift Geisteswissenschaften – genau eines, drei mal ein Meter, halb gefüllt, daher viele Bücher liegend, oder mit starker Schlagseite, größtenteils Sebastian Sick, Hirschhausen und eben Biographien.

    Ein Liter Superbenzin kostet einen Euro 71 Cent und mir wird klar, dass bei diesem Preis vom deutschen Mittelstand nicht viel zu erwarten ist.

    Bei der Diskussion mit alten Bekannten stellt sich heraus, dass Lampedusa-Flüchtlinge eigentlich in Duisburg ghettoisierte, rumänische Hartz 4 Empfänger islamischen Glaubens sind, die am Wochenede zum Klauen in den Speckgürtel kommen, also zu ihnen, nachts in die Garage, den Vorgarten und Partykeller. Eine große Chance für das deutsch-türkische Verhältnis scheint mir die aufkommende Sympathie für die türkische Regierung zu sein, die die 700.000 syrischen Flüchtlinge nicht versorgen und sofort zurückschicken will. Zweifellos ist hier der europäische Standard erfüllt.

    Man macht mich darauf aufmerksam, dass Sloterdijk Brock so zitiert: “Lerne Leiden, ohne zu klagen – und: Lerne Klagen ohne zu Leiden.” Ich sehe nicht ein, warum Rüdiger Nehberg diesen gewichtigen Zusatz am Überlebensgürtel mit in die Wildnis schleppen sollte.

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    Das Soziale ist, so schreibt Freud im Unbehagen in der Kultur, die größte Quelle menschlichen Schmerzes. Schlimmer als die Angst vor Naturgewalten und dem eigenen Verfall. In welchen Fällen es wohl umständlicher und schmerzhafter ist, seine Bedürfnisse in der Gesellschaft anzumelden, anstatt sie auf sich selbst gestellt durchzusetzen?

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    In Asterix bei den Briten gibt es eine Sequenz militärisch organisierter Weinverkostung, in der Legionäre die Fässer konfiszierten Weines einschlagen müssen, um das eine unter tausenden zu finden, in dem sich der Zaubertrank befindet. Tatsächlich wird das Fass gefunden und die Lehre scheint mir zu sein, dass viele kleine Fässer einfacher aufzumachen sind als ein großes. Der gemeine Suff allerdings, den die Legionäre sich bis zum Fund antrinken müssen, verhindert die strategische Nutzung ihrer taktischen Meisterleistung.

1/1/14

    Sloterdijk erzählt von Bazon Brock, dieser habe des öfteren ‘Lerne zu leiden, ohne zu klagen’ zum besten gegeben. doch wir wissen es besser, da ‘Lerne zu leiden ohne zu klagen’, wenn nicht zuerst, dann doch zuöfters durch den Menschenrechtler und Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg poulär gemacht wurde. Dass es einem im Dschungel, auf einem Baumstamm mitten im Atlantik und im Universitätsbetrieb gleichermaßen das Fortleben und Fortkommen erleichtert, wenn man beim eigenen Kampf im lebensfeindlichen Habitat möglichst wenige Geräusche von sich gibt, sorgt für Gemeinsamkeiten.

    Onomatopoiese des Gebrechens ist die Monographie eines akademischen Rates in Münster, bei dem ich mehrere Seminare zu Pragmatik absolviert habe.

    Uwe Kamenz behauptet bei Franz Walter Steinmeiers Dissertation schwerwiegende Mängel nachgewisesen zu haben. In der Tat bringt die von ihm entwickelte Plagiatssoftware ganz erstaunliche Erkenntnise ans Licht. Die Passage “Um mit Ernst Bloch zu sprechen…” erkennt sie als Plagiat Steinmeiers an einer Rede Helmut Kohls. Hätte Kamenz, der nicht nur Wirtschaftsprofessor an der FH Dortmund, sondern auch Gründer und allem Anschein nach einziges Mitlgied des ‘Instituts für Internet Marketing’ ist, seine Software nicht auf Steinmeier angesetzt und unter anderem mit Helmut Kohls Reden gefüttert, wäre Kohls Belesenheit dem breiteren Publikum auf ewig verborgen geblieben.
    Spötter können sich nun daran aufhalten, dass Helmut Kohl doch Ernst Bloch nicht ernsthaft gelesen haben könne. Ich frage mich in welchem Kontext Helmut Kohl es für angebracht hielt “Um mit Ernst Bloch zu sprechen…” anzuwenden und ob er damit überhaupt Ernst Bloch zitieren wollte, oder vielleicht Franz Josef Stauss, der womöglich an anderer Stelle mit Bloch gesprochen, aber unsauber gearbeitet und ihn nicht erwähnt hatte und Kohl diesen Fehler durch das korrekte Zitat zu korrigieren versuchte. Ein grenzenloses Gespräch, wenn man mit Bloch und denen die auch schon mit ihm sprachen spricht.