In Zeiten großer Anspannung ist es das Beste, sich dem Grund der Anspannung direkt zu stellen. Meistens handelt es sich um etwas, das zu lange aufgeschoben wurde: Arbeit im Allgemeinen, ein Arztbesuch, der Anruf bei alten, ehemals gut Bekannten. Viel Schlaf und Abstinenz soll außerdem bei der schnellen Verarbeitung der aufgelaufenen Anfragen helfen.

    Aufruf zum täglichen Alkoholgenuss:
    Arbeit lässt sich nicht abarbeiten. Es gesellt sich immerzu neue Arbeit zur alten und verschiebt das Ende in unabsehbare Ferne. Bevor diese Verzweiflung zu Verspannungen führt und einem das Leben schon beim Aufstehen verleidet, sollten Etappenziele durch rituelle Abschlüsse gekennzeichent werden. Zum Beispiel durch eine Flasche Rotwein, die man spät in der Nacht mit anderen trinkt.

    Vor dem Haus des Präsidenten der Johns Hopkins konnte ich im Sommer einige Hochzeiten beobachten. Dieser Bereich des Campus erinnert an einen botanischen Garten und Allergiker haben aufgrund der importierten Gewächse aller Art das ganze Jahr über ihre Freude an diesem Kleinod, das zwischen Clubhaus, Gewächshaus und dem Gebäude der Geisteswissenschaften  zudem eine ansehnliche Grünfläche mit Springbrunnen bietet. Hundertschaften können dort romantisch zwischen von gröbster Bedrohung befreiter Natur und marmorschwerer Herrschaftsarchitektur der großen Erzählung zugeführt werden: ‚bis dass die Scheidung uns tötet‘. Finanziell muss ich den Keim des Todes schon im Pomp der Heirat erkennen, die in den von mir beobachteten Fällen jeweils mehrere zehntausende Dollar gekostet haben muss. Während der Bräutigam mit der Hummer-stretch Limousine auf dem Feld der Eheschließung erschien, musste die Braut alleine in einer Pferdekutsche anreisen und scheinbar sinnlos darin sitzen bleiben, bis die Photoraphen mit ihr fertig waren. Die Einsamkeit ihres Objekts haben die Bilder wohl kaum eingefangen und auch den etwa fünfzig Meter langen, getragenen Marsch der Braut bis zum Altar – bei dem sie ihr Platin-farbenes Kleid über den Rasen heben und ihre zwölf Zentimeter langen Absätze bei jedem Schritt dem weichen Erdboden wieder entreißen musste – auch diese vom tiefen Ernst verdeckte, lächerliche Qual haben sie ganz anders gesehen.
    Vom Ritus bereits derart zugerichtet, erreichte die, allem Anschein zum Totz, sehr schöne Braut, schließlich ihren geduldigen Bräutigam im schneeweißen Smoking. Im Rasen vor der Priesterin versinkend, war sie auch ohne die Röhren unter ihren Schuhen deutlich größer als ihr bald Anvertrauter, der mit US amerikanisch-lockerem, Hosenzuschnitt alles daran gab seine Oberfläche im Wind zu vergrößern. Er würde sich auch in Zukunft Mühe geben jeden Mangel auszugleichen, und das zeigte er der Welt, indem er sich einen enormen Lederhandschuh über Hand und Unterarm zog. Nach kurzem Winken landete darauf ein Falke. Ein Lederbeutel am Greif enthielt die Ringe, die das Tier dankbar zurückließ, um sich auf einem nahegelegenen Baum die beste Aussicht auf das ganze zu sichern.
    Aus gehörigem Abstand das ganze beobachtend, blickte ich abwechselnd auf einen Käfig mit weißen Tauben, von dem ich annahm, dass er sich zum Höhepunkt hin öffnen sollte und den Falken im Baum. Ich fühlte, dass wir beide insgeheim dem Zeichen des Taubenfluges unsere ganz eigene Spannung abgewinnen würden, die sich auch über das Ende der Hochzeit noch erhalten sollte.
    Der Falke, der jetzt gerade in meinem Innenhof auf dem Geländer einer Feuerleiter sitzt, muss sich verirrt haben. Er fliegt gleich wieder weg, als ich versuche ihn dort mit der Kamera einzufangen. Ich bekomme Besuch zum Kaffee. Noch zweieinhalb Jahre werde ich hier arbeiten.

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