sechsundzwanzigster Juni | 2021

    Kürzlich noch: Anger Management.
    Die Lethargie ging um, manche impften sich mit Wut dagegen. Das Virus blieb. Die Maßnahmen blieben. Hier im hohen Norden, sah ich nur Letzteres.

    Zu Wellen hat man am Meer ein besonderes Verhältnis – gehabt. Seit Generationen steckt das erzählerische Potenzial hinter dem Deich fest. Da liegt, was sich früher Ungeheuer vorstellte, die vor Brasilien mit dem Schwanz schlugen. Angela Merkel und Christian Drosten und Bill Gates schlagen heute angeblich Wellen. Hinter ihnen vermuten besonders quere Denker wieder neue Monster und erzählen sich Geschichten. Männer mit Dreizack und Aggressionsstörungen tauchen in antisemitischer Verkleidung wieder auf.

    Die Suche nach den Gründen, kennt keine spekulative Grenze. Hinter Allem, liegt ein Alles, so wie: Hinter jedem Deich kommt irgendwann wieder ein Ufer mit noch einem Deich, denken sie mal drüber nach. („Think about it, I haven’t.“ Stephen Colbert: White House Correspondence Dinner, 29.04.2006)

    Beim Tennis gab es einen Skandal, Naomi Osaka hat sich dazu hinreißen lassen, von ihrer psychischen Gesundheit zu sprechen. Spitzensportler haben andere Aufgaben, da ist man sich einig: Freiheit verkörpern. Den Schweiß des Kapitalismus zu Parfüm destillieren. Harte Arbeit + Leidenschaft = Erfolg.
    Im Kontext der medialen Reaktion sprach ein Tennismensch von einer Geiergrube. Er sagte das auf Englisch, a „vultures‘ pit“. Will man das begreifen, muss man sich kulturell einfühlen in ein Gebiet, wo sich Geier, Schlange, und Löwe noch gute Nacht sagen.
    Und noch eine Metapher: Wer für eine Sache brennt, kann den Vorgang nicht mehr anhalten. „Stop and think!“ (Hannah Arendt, 1964)

    Neben mir wird ein Tisch frei, es kommt, für hiesige Verhältnisse, zum Eklat. Ein Paar mit elektrischen Rädern sieht den Tisch, lässt sich rollen, steigt kurz davor ab, redet bereits vom Tisch, markiert ihn verbal. Ein Paar zu Fuß steht knapp dahinter, redet nun auch vom Tisch, hat ihn offensichtlich auch gesehen, aber ohne dabei von mir bei gesehen worden zu sein. Räumlich und zeitlich erscheinen mir die Radfahrer im Recht. Richter sind wir alle, die wir in der Gegend Zeuge werden. Wie verhalten sich die anderen? Ich versichere mich durch einen Schulterblick, niemand interessiert sich bislang für die Sequenz. Die Konkurrenz spitzt sich zu, ein Rad blockiert den Tisch. In einer Gesellschaft von Autofahrern ist diese Form von Menschenverachtung sanktioniert, meine Kritik kann ich mir sparen.
    Zusatz: Ich hatte vergessen, dass man an öffentlichen Orten Kopfhörer braucht, um dort schreiben zu können. Die Menschen schwatzen und brauchen meine Liebe für sie auf, je mehr ich davon verstehe. Und: Die Pandemie hat uns kaputtgemacht, niemand weiß mehr, wie man Telephone benutzt, ohne andere in die Benutzung mit hineinzuziehen.

    Vor über einem Jahr stand ich in Paris unter Hausarrest. Da war ich baff, denn diese Anweisung, das Haus nicht zu verlassen, außer zum Einkauf von Lebensmitteln, oder zwecks Arztbesuch, traf ungeschützt auf meinen antrainierten Hang zur Gefolgsamkeit („Jawohl, Herr Wachtmeister“). Mit dem Erlass der französischen Regierung war, kusch kusch, der öffentliche Raum ein Raum der Illegalität geworden Ähnlich verkorkst wie jemand, der sich an der Supermarktkasse beim Kauf von Kondomen ehrlich schämt, lief ich nun geduckt und zu schnell durch die Stadt, mich fürchtend, in meiner Devianz ausgemacht und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es soll Menschen geben (bessere Katholiken als ich einer bin), denen die Angst erwischt zu werden einen erotischen Mehrwert verschafft. Mich machte meine Lage einfach nur aggressiv. Die Aggression richtete sich gegen Wände und Kissen, seltener, Porzellan. Lehrreiche Zeit: Keramikkaffeebecherbrechennichtsoleicht.

    Gesellschaften sind keine Menschen. So wie VWL kein BWL und das Volk kein Körper. Meine Pariser Umgebung hatte nun ihre Art, mit den strikten Einschränkungen umzugehen, und schnell wurde mir klar, dass der Mensch hier der strikten Verbote bedarf, um sie überhaupt nur wahrzunehmen. Wer im Verkehr auch bei Vollsperrung der rue x mit dem Martinshorn im Nacken die Mitelfinger von Rollerfahrern ignorieren kann, hat eine andere Reizschwelle. Die Vollsperrung meines sozialen und beruflichen Lebens nahm ich als solche hin, während die Pariser sich auf ihren Rollern über Bürgersteige und durchgezogene Fahrbahnmarkierungen, ein Leben und Überleben organisierten. Ich empfand das mitunter als metaphorischen Mittelfinger. In einem Rückfall, weil ich mir das endlich selbst erklären musste, fasste ich es so: Weder die sorgende noch die strafende Hand von Vater Staat reicht in diese Leben.

    Ein Aufruf ging zu dieser Zeit durch die Medien, es wurden Jäger gesucht, die die Einhaltung der Coronaregeln überprüfen sollten. Der Rekrutierung von Hilfssherriffs in Frankreich steht in Deutschland gegenüber: die Anordnung große Autohäuser von den Coronaregeln auszunehmen. Sie mögen meinen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Ich aber sage, dass in frz. Buchhandlungen an der Stelle der Esoterik-Abteilung, ein Regal mit Militärstrategie zu finden ist. Sie meinen vielleicht, dass das nicht stimmt, und ich sage, sie lesen ohnehin die falschen Bücher.

    Der Musiker Beck schmiss einst in Kleve vom Balkon des Schlosses Moyland ein Klavier. Ich war nicht dabei und erinnere mich nur an die bewusst skandalisierende Begründung für das tun, er wolle diesen Klang einmal im Leben gehört haben.

    Gefährdet wurde niemand, als beschädigt galt danach nur genau ein Klavier. Das Hieven, Schieben und der abgesteckte Perimeter waren Teil einer Performance. Was hätte Jospeh Beuys dazu gesagt, und wenn es davon Bilder gibt, soll man sie recherchieren oder eine Tonaufnahme suchen wollen?

    In meinem Regal steht Becks Paper Tigers seit neustem neben Melody Nelson von Serge Gainsbourg. Jetzt mit 38 habe ich beide gehört, und frage mich, ob ich von Paper Tigers noch einen Mehrwert erwarten kann, wenn ich das Album kontrolliert vom Regal herunter auf den Boden fallen lasse.

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