Mein Opa väterlicherseits ist schon lange tot. Im Krieg war er Funker, wie ja überhaupt alle Opas im Krieg Funker gewesen sind. Ich kann es mir recht gut vorstellen, wie sie sich ständig zufunkten, was noch zu tun, schon getan worden ist, oder was verlangt wurde, dass man es tut – Statusmeldungen und Befehle. In all den Worten wird nur wenig verhandelt, man informiert sich über die wichtigen Dinge, ob man spät dran ist, oder aus einer anderen Richtung kommt, die Vorstellung bereits läuft, oder der Zug abgefahren ist. Das Ziel hinter den Operationen wird nicht durchgegeben. Einige denken, es gehe ums Überleben. Was genau das bedeutet, wen genau und wie viele man überleben muss, um siegreich hervorzugehen, und ob es reicht, wenn ich alleine überlebe, oder die Familie, der Betrieb, die Nation, … ist nicht klar. Eine Funkerexistenz ist sehr 20. Jahrhundert.
    Mein Opa fuhr gerne mit dem Rad durch die flache Gegend, die gar nicht seine Heimat war, in der er aber irgendwann ein Haus gebaut hatte. Als Teenager begleitete ich ihn ein paar mal auf so einer Tour, aber Opa fuhr im allgemeinen lieber alleine, was der Familie nur als weiteres Indiz dafür galt, wie schwierig Opa geworden war. Ich verstand das damals schon recht gut. Ich fuhr auch lieber alleine. Ansonsten war mir der ur-ur alte Mann Ende sechszig damals ein Rätsel. Er war albern in seinem Witz und hatte zugleich zerstörerisch cholerische Züge an sich. Zwischen den Sätzen „Alles Scheiße!“ und „Jawollo, alles dollo“, da lebte Opa. Ein ganz düsterer Ort, zu dem ich erst viel später Zugang bekam.
    Opa erzählte nie vom Kriege, oder von der Heimat. Nachdem er gestorben war, erzählten Photos und Dokumente für ihn: Entlassungspapiere von Gefangenschaft und Übergangslagern, ein junges, freundliches Gesicht vom letzten Kriegsjahr und den ersten Stationen auf dem Weg nach Westen bis ins flache Land, das dem ambitionierten Radfahrer so zupasskommt. Von diesen Touren, von denen immerhin erzählte er bisweilen den daheim gebliebenen.
    Einmal fuhr Opa übers Land nach Holland hinein und auf einer schon oft gefahrenen Runde durch mehrere kleine Dörfer begegnete ihm ein alter Bekannter, ebenfalls auf dem Rad, die Gegend erkundend vielleicht, oder auch in der unendlichen Wiederholung einen Genuss suchend. Sie kannten sich von vergangener Arbeit im Stahlwerk und kamen ins Gespräch darüber, dass sie hier nun beide fahrhradfahrend die selbe Gegend bewohnten. Was sonst noch zum Ausdruck kam in diesem Gespräch ließ Opa im Dunkeln. Er wollte wohl wieder los, mein Opa, und dieser andere schloss sich ihm etwas unvermittelt an.
    Man könne ein Stück des Weges sich teilen, denn in die Stadt x wolle er auch noch, weil man dort vom Berg einen schönen Blick auf den Rhein habe. So etwas in der Art könnte der andere gesagt haben, aber sicher ist das nicht. Opa sprach mir gegenüber nur davon, dass dieser Iddi, so sagte Opa gerne, dass also dieser kleine Idiot mit ihm überfahren wollte und Opa ihn auf den folgenden Kilometern deklassiert habe, abgehängt eben, bis er aus dem Blick verschwunden sei. Der Iddi habe noch gerufen: „Rudi, ich kann nicht so schnell.“
    Opa hatte über den Berg der Stadt x und den Ausblick auf den Rhein nichts zu sagen. Ich vermute, dass er darüber weggeflogen ist, ohne anzuhalten, denn es bestand die Gefahr, der andere könnte ihn einholen. Mich stimmte die Geschichte sehr traurig, ich wusste aber nichts zu sagen, außer hoho – eine Bemerkung, die Opas Fitness galt, und ihn gegenüber dem Abgehängten ins Recht setzte. Heute frage ich mich, ob der Bekannte es noch auf diesen Hügel mit Ausblick geschafft hat, oder ob er rastlos umkehrte, wieder ins selbstgebaute Haus, um die Flucht da raus auf morgen zu verschieben.
    Kurze Zeit nach dieser Episode gab mein Opa das Radfahren dran. Ihm fehlte die Balance. Bei langsamer Fahrt fiel er um, und sein Herz verbot ihm alles Weitere. Auch davon sprach er nicht, aber die Schürfwunden an seinen Ellbogen und das plötzlich verschenkte Rad informierten uns mit leichter Verspätung. Ich wünsche mir, dass die sportliche Gazelle an den bekannten, abgehängten Iddi gegangen ist, und die beiden so noch ihr Gemeinsames entdeckt haben.

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