Aus Langeweile nahm ich das berliner Käseblatt in die Hand, das sie Sonntags in aller Herren Briefkästen werfen. Allein schon, dass ich es vom Briefkasten mit in den ersten Stock hinaufnahm, war ein geradezu ungeheuerlicher Vorgang. Üblicherweise rühre ich die Gazetten mitsamt der Ikea und Aldi Werbung ohne Umwege in den Ausguss, werfe sie also in den Papiercontainer im Erdgeschoss. Nun aber lag das Ding vor mir auf dem Frühstückstisch, vollgedruckt bis in die letzte Ecke sah es mich an und wollte nur das eine. Solange ich die Rühreier verquirlte, in die Pfanne schlug und mir das Frühstück zurechthampelte war das auch kein Ding, das sie da lag, die Berliner Zeitung, da hatte ich zu tun und musste nicht an sie denken. Kaum aber saß ich und stocherte im Ei herum, da fixierte sie mich und zwang mich zum Lesedienst.
So geschah es dann – ich las das ganze verdammte Blatt, ließ nichts aus, sogar das Horoskop, Kontaktanzeigen und die Dienstleistungen zur Befriedigung der Konsum- und anderer Triebe. Sitzecken in ätzenden Farben, Hausbesuche vom IT-Spezialisten und natürlich Telephonsex.
Wieder einmal war der Code der Kontaktanzeigen besonders faszinierend. Ähnlich wie Bewerbungsschreiben und Arbeitszeugnisse lebt dieses Genre in seiner kleinen Sprachblase und verlangt nach Spezialistentum. Man muss schon begreifen, dass attraktiv, schüchtern, ansehnlich, verschmust und überhaupt alle Adjektive dort nur als euphemistische Platzhalter stehen. ‚Attraktiv‘ und ‚ansehnlich‘ weisen im Sprech von Rudis Resterampe darauf hin, dass der oder die Suchende insofern an Gliedmaßen vollständig und in so geringem Maße als entstellt gelten kann, dass Menschen in der Fußgängerzone sich weder nach ihnen umdrehen, noch sich im Schrecken von ihnen abwenden. Sie sind also ansehnlich, wenn der Zufall es denn hergibt, dass man sie ansieht. ‚Schüchtern‘ hingegen ist das nette Wort zur Beschreibung eines Sozialwracks, einer völlig verstörten Person, die schon zuckt, wenn der Busfahrer den Rentnerausweis sehen will. Unfähig zur Konversation mit anderen Menschen, höchstens noch zum Selbstgespräch mit dem ebenso verstörten Haustier fähig – das ist ein auf dem Fleischmarkt als ’schüchtern‘ beschriebenes Subjekt. Sein Bedürfnis nach menschlicher Nähe muss schon geradezu brutal an das schwindsüchtige Herz klopfen, um so eine Kontaktanzeige in die Welt zu lassen. Ebenso eine Frechheit ist das Wort ‚verschmust‘ zur Beschreibung einer stubenhockend langsam verfettetenden Existenz, die sich amöbenhaft schlaff auf Sesseln und Sofas der medial forcierten Verblödung hingibt. Wer jemanden sucht, der seine Freizeit liegend im Verdauungsdelirium verbringt und dabei in den Arm genommen werden will, kann bei ‚verschmust‘ getrost zugreifen, dachte ich mir und war recht angewidert vom Werbe-Sprech, als mir Folgendes einfiel, oder vielmehr, ich wünschte mir, die nächste Anzeige würde alles anders machen:
Fetter sturer alter Sack, geschieden, kaum noch Haare auf dem Kopf und vorbestraft (kein Mord), sucht Sie zum gemeinsamen Harzen und Spaziergängen mit epileptischem Rauhhardackel. Du solltest keine beruflichen Ambitionen oder einen Familienwunsch haben, aber dafür Freude am gemeinsamen Verfaulen. Chiffre: Die Bettwurst.
So war das Lesen denn beendet und das Käseblatt hatte mich ans Denken gebracht.