siebter Januar | 2022

    Ich höre ein Interview mit Charles Mingus. Es handelt sich um einen Zufall. Auf irgendeiner LP von Mingus, die ich vor Jahren digitalisiert hatte, befand sich eben auch dieses Interview, von mir ungehört, bis eben heute die Zufallswiedergabe es mir am Küchentisch zuführt.
    Ich erfahre, dass Charles Mingus fast ausschließlich auf dem Klavier komponierte. Dem Anschein nach sitzt er während des Interviews auch genau dort, am Klavier. Launig spielt er in das Gespräch hinein und illustriert die Worte. Mingus spielte früh mit allen möglichen Jazz- und Bigband- Größen, aber es ist die eine Anekdote mit Louis Armstrong, die hängenbleibt.
    Als sehr junger Musiker mwar er mit Armstrong auf Tournee. Auf einer Fährfahrt in den Süden sollte die Band nach Georgia übersetzen und zu Georgia fiel Mingus damals wie zur Zeit des Interviews einiges ein, und zwar nichts Gutes. Während dieser Fährfahrt wurde ihm Angst und bange, so sagt er, tingeling, am Klavier sitzend.
    Die Geschichten über den Süden, was sie dort mit jungen schwarzen Männern machten, konnte Mingus nicht verdrängen. Ihn ergriff eine alles übertönende blanke Angst. Wie genau er diese äußerte, ob er schrie, weinte, um sich schlug, oder bloß ein furchtbares Gesicht machte, ist nicht klar. Louis Armstrong jedoch war von dieser Todesangst beeindruckt und soll, so geht es weiter, die Fähre eigenhändig und damit ist gemeint: unter dem Einsatz von viel Geld – zur Unmkehr gebracht und Mingus am Ufer jenseits von Georgia abgesetzt haben. Jemand anderes musste für die Tournee im Süden Mingus‘ Part übernehmen.
    Genaueres zum Ort erfahre ich nicht. Ich habe mir Gedanken dazu gemacht, wo genau das hätte sein können, und ich vermute, dass die Band von South Carolina aus über den Savannah River überzusetzen versuchte. Und ich vermute des Weiteren eine Hyperbole, was den Mythos Louis Armstrong betrifft. Keinen Zweifel habe ich an Mingus‘ Angst. Dieser Teil des Interviews ist schockierend. Ich muss ihn zwei mal hören. Er formuliert die alltägliche Todesangst nicht-weißer US-Amerikaner so deutlich, wie es heute die Black Lives Matter Bewegung tut.
    Es gibt andere Themen im Interview, niemand hakt nach, es ist erst 1960. Mingus erzählt und spielt weiter.

    Vor sieben Jahren in Berlin suchte ich ein neues Telephon, und ich fand das passende Gerät in Mitte via Kleinanzeige. Zum Verkäufer musste ich mich, beinahe french-style, durch zwei mit Zahlencode gesicherte Innenhöfe bis zur verschlossenen Haustür hindurchkämpfen. Er war Saxophonist, spielte in einem großen Orchester. Telephon und Geld waren getauscht. Ich blieb über den Verkauf hinaus und erfuhr dass er lange in Dresden spielte, dort beim Orchester auch gern geblieben wäre, aber in der Stadt unmöglich hätte weiter leben können. Letzteres meinte er durchaus wörtlich, er fürchtete in Dresden um sein Leben, wurde jeden Tag auf offener Straße verfolgt, bedrängt, beleidigt, und schließlich auch angegriffen. Er verließ schließlich bei Dunkelheit nicht mehr seine Wohnung.
    Eine Erzählung aus einer mir unbekannten Welt. Der Saxophonist hatte koreanische Eltern, da lebt man offenbar lieber in Berlin Mitte als in Dresden.

    In meinem vorletzten Jahr in Baltimore City lief ich einmal nachts den Mount Vernon hinunter, in Richtung Downtown, geradewegs zu auf den 7/11 quer gegenüber von der Peabody Library.
    Der Laden wurde ständig ausgeraubt und ich wunderte mich nicht, dass davor eine Polizeistreife stand. Zwei Polizisten sprachen mit einer offensichtlich verängstigten jungen Frau, einer Studentin der Musikhochschule mit ihrem Blasinstrument im Koffer zu ihren Füßen. Sie sprach laut, mit angetrockneten Tränen auf dem bewegten Gesicht. Im Schein der Straßenbeleuchtung kam ich näher und sie sah jetzt auch mich, fixierte mich. Ihr Gesicht fror ein, und ich fror ein und stolperte in einen Stillstand. Polizist 1 befand sich mit dem Rücken zu mir, drehte sich aus den Hüften um, und führte dabei die rechte Hand zum Holster. Polizist 2 stellte sich breiter auf, die Hand ebenfalls an der Waffe.
    „It’s not him, it’s not him, he was black“, sagte sie. Ich wünschte einen guten Abend.
    Die Erfahrung ist seitdem meine Definition einer bangen Sekunde. Ein lächerlich kleiner Schluck aus der bodenlosen Flasche Gift, ich aber habe bis heute davon einen sitzen.

    In Sachsen hat die AFD bei der letzten Bundestagswahl zehn der 16 Direktmandate geholt. Was das konkret im Leben derer bedeutet, die zum Jagen freigegeben werden sollen, kann die Metapher einem Volk von Autobahnfahrern nicht vermitteln.

    Nachtrag: Charles Mingus‘ Interview ist nicht für die Autobahn abgemischt. Die Stimmen setzen sich nicht gegen das Hintergrundrauschen durch. Und: Ich habe ein Bild von Mingus am Klavier. Es illustriert eine Haltung.

    Im Zug nach Paris im November; es ist eigentlich der Zug nach Hause; ich habe zwei Bücher dabei.
    Ich wusste, dass ich keine Zeit haben werde, sie zu lesen, aber ich fühlte, dass ich nicht ohne Begleitung auf die Reise gehen wollte. Das etwas größere rote Buch: Juri Lotman, Struktur Literarischer Texte liegt jetzt rechts von mir und erinnert mich an mich selbst. Ich lese ein paar Seiten auf die Weise, auf die andere in ein Photoalbum sehen. Das kleinere blaue, das ist Werner Herzogs Vom Gehen im Eis. Ich lese ein paar Seiten, denke an Kafka und Caligari und weiß nicht, ob der Herzog etwas dafür kann. Ich hätte mir auch den Großen Atlas des Universums greifen können, oder den Band mit Brueghel-Abbildungen. Ihr Format macht sie für Reisen untauglich.
    Beide Bücher, immerhin, sorgen dafür, dass ich sofort etwas denken und aufschreiben muss. Bessere Begleiter kann ich mir kaum wünschen. Mein Ich verhält sich, anders als zum Kerl hinter mir, zu ihnen so: Ich kann sie zuklappen, wenn sie mir zu gesprächig werden.

    Im Zug nach Paris im Januar. Nichts will zu mir sprechen. Ich warte auf den Augenblick ästhetischer Erfahrung, wie die Krankenschwester auf den Happy Moment des Dementen, den kurzen Blitz in dem er sich und seine seine Enkel mit Namen nennen kann.

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