Preise ausgezeichnet.
An der Kasse im lidl steht für sich alleine an, eine Menge Leute. Da ist einer, der weiß auch nicht, wie ihm geschieht. Zwei Meter groß und stets im Wege vorbei sich schleichender, biegsamer Körper. Uns fehlt es an Übung, wir werden gerammt. Er erkennt unsere Verwandschaft und wir tauschen aus eine Geste der Frendlichkeit. Noch während ich leise herüberlächle, werde ich ein ein weiteres Mal geschüttelt. Ein vitaler, sehr kleiner Mann, knapp doppelt so alt wie ich und mir in allem überlegen. Er entschuldigt sich und lächelt ebenfalls. Was man mir über Pariser sagte, stimmt bedingt. Es gibt die Zeichen guten Willens, nur ausgesprochen werden sie nicht.
Da wirft sich eine Frau zu Boden. Ich hatte sie gar nicht gesehen. Als ich sie dann sehe, liegt sie bereits. Sie belegt mit ihrem Körper die Schneise zwischen zwei Kassen. Mein Französosisch reicht nicht aus, um auch nur im Ansatz die Zusammenstellung der Worte zu begreifen. Die wilden Gesten jedoch lassen auch den Dummen wissen, dass da jemand für die Lage verantwortlich gemacht werden soll. Ein anderer großer Mann, weiter hinten an der Kasse, soll sie geschubst haben. Er streitet dies ab. Weil er sich im Abstreiten sehr ruhig verhält, ist das Sicherheitspersonal auf seiner Seite. Auf ihren Knöchel verweisend, liegt doch die Kränkung der Frau woanders und ist hier und jetzt irreperabel. In den Gesichtern der immer noch Wartenden steht ausdrücklich die Aufforderung zur Beendigung der Klage. Ein brutal resignatives Wissen steht dahinter: Im Ernstfall ist es die Menge, die rammt. Ihrer kann kein Geschrei habhaft werden.
So dachte ich mir das, als ich zwei Stunden später zu Hause anfing zwischen meinen Zeilen über das frisch Erlebte nachzudenken. In der Situation, im lidl an der Kasse, war die Lage eine andere. Ich erahnte zunächst einen elaborierten Ablenkungsversuch und versicherte mich meiner Brieftasche, und kurz darauf dachte ich mir, es handle sich eher um eine generelle Anklage, denn die Frau war ihrer Kleidung nach vielleicht arm und der Mann seiner Kleidung nach vielleicht reich, ebenso war sie schwarz und dem Akzent nach afrikanischer Abstammung und überhaupt, wer im lidl die Trockensalami zu 89 cent kauft, ist sicher ein Verbrecher.
Es sind die sehr kleinen Dinge, die man nicht sieht. Oder die ganz enorm großen. Vor mir auf dem Trottoir der Rue de Temple macht sich jemand an seinem Ausblick zu schaffen. Er will offenbar ein in die Mauer eingelassenes Stück Glasmalerei photographieren. Es misst im Querschnitt vielleicht 15 Zoll. Zum Ablichten tritt er nicht näher, bleibt stattdessen mit mir auf der anderen Straßenseite, zoomend und kadrierend, die alte schwere Tür aus Hols muss auch noch mit hinein.
Von dort aus nennt er sich, noch heute und zurecht, wann immer er das Bild besieht, einen Entdecker kleiner Dinge. (Anmerkung: Womöglich handelt es sich beim Kunstwerk auch um ein Mosaik, man müsste nochmal hin).
Nachzuholendes Gemaule.
Der konsumierend die Innenstadt verstopfende Münsteraner sieht JETZT aus wie ich mir FRÜHER einen Bewohner Hannovers vorgestellt habe. Mein Urteil hat sicherlich Konsequenzen, aber ich bin viel zu gerne dort, um mir etwas davon anzunehmen.
Die Lust beim Bildermachen, beim Video, der Photographie zieht nach sich den Rattenschwanz der vielen Schritte. Dem Einzelnen und einer Öffentlichkeit das Ausgewählte zugänglich zu machen, vervielfacht die Entscheidungen. Wer hat diese Kraft? Eine Ermüdungserscheinung der Betrachter und Produzenten ist vielleicht der Kitsch.
Selten sind Berichte von Autoren, die in ihren eignen Texte schwelgend, die Lust zu neuer Arbeit glatt verloren haben. Mutwillig müsste man sich unter großem Aufwand gegen jede neue Praxis in das Alte wieder lesen. Hingegen jeder Bildbetrachter den Moment zu fürchten lernt in dem ein altes Selbst aufsteigt. So wie’s gefühlt, gerochen und dagestanden hat. Nach diesem Selbst besteht womöglich Sehnsucht und schon ist es mit der Distanz dahin. Derart von der eignen Mythologie ins Mark getroffen zu werden – dagegen hilft nur die Verwandlung ins Produkt.
Hier könnte Ihre Übersetzung stehen.
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